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Walk & Talk zum Thema Hochsensibilität - Mix aus Erleben, fachlichem Input und Austausch mit Netzwerken

Erstellt von Anja R. Steinhoff

17.07.2023 Frauengesundheit

Sind Sie schnell reizüberflutet und häufig erschöpft? Ist Ihnen vieles einfach zu laut? Eine Abgrenzung zu Emotionen anderer Menschen fällt Ihnen schwer? Ihr Gerechtigkeitssinn ist stark ausgeprägt und Sie spüren Dinge oft schon, bevor andere sie überhaupt wahrnehmen? Dann sind Sie vielleicht hochsensibel.

Schätzungen zufolge sind circa 15 bis 20 Prozent aller Menschen hochsensibel. Hochsensibilität ist jedoch keine Krankheit und kann somit nicht ärztlich diagnostiziert werden! Sie kann eine Gabe sein, wenn es Ihnen gelingt, sie gut in Ihren Alltag zu integrieren. Im Interview mit Britta Arndt, Coach und Gründerin des Frau-zu-Frau-Zentrums Mülheim, erfahren Sie mehr zum Thema und über ihre Mitwirkung beim diesjährigen Frauen.Gesundheitstag am 19.07.23 in Schloß Borbeck.

 


 

FGT: Frau Arndt, was versteht man unter Hochsensibilität? Gibt es hier unterschiedliche Ausprägungen?

Arndt: Hochsensibilität äußert sich bei jedem Menschen anders. Sie ist eine besonders ausgeprägte Begabung zu feiner, intensiver und empfindlicher Wahrnehmung mit allen fünf körperlichen Sinnen. Hochsensible schmecken, riechen, fühlen, sehen und hören, was andere Personen nicht wahrnehmen. Hinzu kommt eine starke Gefühlsaufnahme anderer Emotionen. Hochsensible sind immer emotional stark dabei. Sie können es förmlich riechen, wenn jemand gleich schlechte Laune bekommt.

FGT: Kann dies nicht sehr anstrengend sein?

Arndt: Ja, viele hochsensible Menschen sind schnell reizüberflutet und dadurch oft schnell erschöpft. Aber sie haben auch eine Sinnesbegabung: Hochsensible können z.B. schnell in Inhalte abtauchen, die sie interessieren, können sie schneller als manch andere Menschen erfassen und durchdenken. Hochsensibilität ist keine Schwäche, sondern eine Gabe, wenn man weiß, wie man damit umgeht. Und das möchte ich den Menschen mitgeben.

FGT: Hochsensibilität - ein Fluch und Segen zugleich?

Arndt: Wenn man nicht weiß damit umzugehen, ist es vielleicht erst einmal ein Fluch. Hochsensibilität ist jedoch keine Krankheit und kann somit nicht ärztlich diagnostiziert werden. Die Entdeckung der eigenen Hochsensibilität wird oft verbunden mit der Erkenntnis: Es ist alles so viel, es ist alles so laut, ich brauche mehr Pausen. Aber wenn man die eigene Hochsensibilität versteht, kann man sie sich enorm zunutze machen. Es ist wie ein Hochleistungsgehirn, wenn man gut auf sich achtet. Und das müssen manchmal auch Chefs und Chefinnen verstehen: Dass die Mitarbeiterin öfter mal eine kleine Pause braucht  oder sich zurückziehen muss, also nicht so gut im Großraum arbeiten kann. Dafür ist sie aber top im Job: Sie ist schnell, sie ist zuverlässig, sie in den meisten Fällen sehr korrekt, in dem, was sie tut. Hier sind wir beim Stichwort „Perfektionismus“ und dem Thema des diesjährigen Frauen.Gesundheitstages.

FGT: Sind es mehr Frauen, die hochsensibel sind – vielleicht aufgrund unseres Gehirns? Oder ist Hochsensibilität geschlechtsunspezifisch gleich verteilt?

Arndt: Die Forschung dazu ist nicht einfach, da Männer sich nur selten dazu bekennen. Frauen gehen zu Coachings, sie gehen zu Psychologen. In der Forschung geht man durchaus von einer Gleichverteilung aus. Männer äußern zwar immer häufiger, dass sie hochsensibel sind, jedoch ist das Thema bei Frauen bisher wesentlich präsenter. Auch die Erziehung verläuft bei Mädchen und Jungen oftmals sehr unterschiedlich. Jungen bekommen oft zu hören: Wein doch nicht! Stell’ dich nicht so an!

FGT: Wie gehen die Jungen dann mit dieser Emotionalität um, die den Männern nach wie vor weniger zugestanden wird als Frauen?

Arndt: Das ist ganz schwer. Ich kenne mittlerweile durchaus Männer, die damit erfolgreich umgehen, die gute Teamleader sind, weil sie sich gut einfühlen können. Aber dies sind nicht unbedingt Eigenschaften, die wir mit männlichen Führungskräften verbinden.  

FGT: Was können Menschen, die eine Ahnung davon haben, dass sie hochsensibel sind, für sich tun?

Arndt: Hochsensibilität ist keine Erkrankung, es handelt sich um Persönlichkeitsfacetten, das ist wichtig. Daher kann auch kein Arzt eine Diagnose stellen. Die Reizoffenheit des Gehirns lässt sich übrigens sogar per MRT nachweisbaren. Es ist kein Hokuspokus, nicht einfach nur ein neuer Trend. Es gibt gute Tests im Internet, mit denen man für sich selbst gut feststellen kann, ob man hochsensibel ist. Zudem rate ich meinen Coachees, sich Wissen zum Thema anzueignen, sich schlauzumachen oder sich Unterstützung für ein paar Wochen oder Monate zu holen: Wie gehe ich die nächsten Schritte? Manchmal bedeutet es, den Beruf zu wechseln oder die Freizeit komplett anders zu gestalten.

FGT: Diese Gabe kann im Zusammenleben mit anderen Menschen durchaus Konflikte verursachen. Was können Hochsensible machen, um Ihre Umgebung dafür zu sensibilisieren, damit sie im schlimmsten Fall nicht als „nur überspannt“ oder „besonders empfindlich“ gelten?

Arndt: Ja, die Probleme gibt es definitiv, und ich habe sie auch schon selbst erlebt. Ich bin davon überzeugt: Es kommt auf das eigene Standing an, das man entwickelt. Eine Reaktion könnte beispielsweise sein zu entgegnen: Sei doch froh, dass ich das spüre, was da gerade passiert, anstatt sich dafür zu entschuldigen. Außerdem sage ich meinen Coachees immer: Entschuldigt euch niemals für Tränen! Egal, ob im beruflichen oder privaten Kontext. Stellt eure Gabe in den Vordergrund, nicht die Einschränkung. Zeigt es! Wenn Ihr beispielsweise ein Team gut ausbalancieren könnt, so sagt dies eurer Führungskraft, und stellt nicht nur euer Bedürfnis nach mehr Rückzug in den Vordergrund! Es muss ein Wandel stattfinden – und er findet auch statt. Ich erlebe dies auch bei Führungskräften.

FGT: Doch gerade im beruflichen Kontext wird Emotionalität doch oft noch als „unprofessionell“ oder als Schwäche bewertet.

Arndt: Wir müssen uns doch fragen, wie weit sind wir gekommen mit diesem Weg, den wir gerade gehen: unemotional in einer Ellbogengesellschaft? Wir haben massive Probleme und noch nie gab es wohl so viele psychische Erkrankungen wie zurzeit. Vielleicht ist ein neuer Weg genau das, was wir jetzt brauchen: Rücksichtnahme, Mitgefühl, Achtsamkeit sich selbst und anderen Menschen gegenüber.

FGT: Heißt das: Aus Ihrer Sicht müsste das Thema achtsamer und sensibler Umgang auch mehr Raum bekommen im beruflichen Kontext, in der Führungskräfteentwicklung?

Arndt: Definitiv. Es wird mehr, aber es ist noch zu wenig. Und dann wundert man sich in den Chefetagen, dass der fünfte Mitarbeiter mit Burnout nach Hause geht, dass jemand im Großraumbüro super unkonzentriert ist. Dabei braucht es oft nur minimale Änderungen im Jobsetting, mit denen wir die Mitarbeitenden in Höhenflüge katapultieren könnten. Aber es wird nicht gemacht, weil nicht gefragt wird: Fühlst du dich wohl an deinem Schreibtisch mit dem Rücken zu deinen Kolleg:innen? Welche Möglichkeiten gibt man den Mitarbeitenden, dies auch unaufgefordert zu kommunizieren, ohne dass es als Schwäche oder als Problem bewertet wird? Wie fördere ich mein Team, so dass es das leistet, wofür ich es bezahle? Letztlich geht es doch darum, die Arbeitskraft der Mitarbeitenden bis zur Rente zu erhalten. Dazu gehört auch, dass Pausen gemacht werden. Dies gilt für alle Mitarbeitenden, aber für einen hochsensiblen Menschen ist die Pause ein absolutes Muss, da das Gehirn irgendwann reizüberflutet ist.  

FGT: Beim diesjährigen Frauen.Gesundheitstag bieten Sie einen „Walk & Talk zum Thema Hochsensibilität“ an. Was ist das Besondere an diesem Format?

Arndt: Es ist mittlerweile wissenschaftlich belegt ist, dass Kreativität, Wissensansammlung und Konfliktbearbeitung besser in der Bewegung funktionieren. Statt eines 45-minütiges Vortrags möchte ich daher mit dem „Walk & Talk“ in die moderate Bewegung kommen, um das fachliche Input gut zu verankern und mit einem Ort zu verknüpfen. Und der ist mit dem Schloßpark Borbeck zudem wunderschön.

FGT: Was dürfen die Teilnehmerinnen konkret erwarten?

Arndt: Ich werde mit bis zu 20 Teilnehmerinnen meiner Gruppe erst einmal ein paar Schritte ganz achtsam laufen. Hier rege ich die Teilnehmerinnen an sich zu fragen: Wie gehe ich? Wie fühle ich mich? Tut die Bewegung gerade gut? Wie erlebe ich die Natur um mich herum? Besonders die Bewegung in der Natur ist für hochsensible Menschen genial, um sich zu erden. Über diese Fragen komme wir dann zu den Hauptsorgen, die die Teilnehmerinnen mitbringen. Ich gehe davon aus, dass die wenigsten sagen werden: „Ja, ich bin hochsensibel und fühle damit mich richtig gut!“ Ich rechne eher damit, dass Frauen diesen Programmpunkt wählen, die spüren, dass sie gestresst sind oder sich erschöpft fühlen. An dieser Stelle werde ich dann einhaken und über das Thema Hochsensibilität aufklären: Was ist das? Warum fühlt ihr euch gestresst und erschöpft? Wichtig ist, dass die Frauen erkennen, dass sie damit nicht allein sind. Das Gruppenformat ist für das Miteinander-Gefühl ideal. In der letzten Viertelstunde werde ich mit den Teilnehmerinnen ins Gespräch kommen. Ich scheue mich auch nicht davor, mit der Gruppe in die Diskussion zu gehen. Es wird ein Mix aus Erleben, fachlichem Input und Austausch mit Netzwerken sein.

FGT: Bei weiterem Beratungsbedarf stehen Sie im Anschluss der Veranstaltung in Ihrem Frau-zu-Frau-Zentrum in Mülheim auch als Coach zur Verfügung, falls die Teilnehmerinnen erkennen: Ja, ich bin hochsensibel und weiß gerade nicht, wie ich damit umgehen soll. Was bieten Sie den Frauen hier an?

Arndt: In der Regel führe ich mit allen Frauen, die ich noch nicht kenne, ein unverbindliches Vorgespräch, das etwa 15 bis 20 Minuten dauert. Hier lernen wir uns kennen und können feststellen, ob es miteinander passt. Die Schwingung sollte stimmen. Ich bin davon überzeugt: Ein Coaching macht keinen Sinn, wenn man merkt, dass es menschlich nicht harmoniert. Der nächste Schritt gilt dann den Themen, die im Mittelpunkt stehen, um einzuschätzen, wie viele Sitzungen erforderlich sind – das schätze ich grob ab. Meist sind es erst einmal ein, zwei oder vielleicht fünf Sitzungen. Darüber hinaus biete ich regelmäßig einen von mir moderierten Austausch zum Thema Hochsensibilität mit vier bis fünf Frauen an. Dieser Austausch ist unabhängig von einem individuellen Coaching. Das ist eine supertolle Erfahrung, da die meisten Frauen mit dem Bild zu mir kommen, dass sie ganz allein mit der Thematik Hochsensibilität sind: Das hat doch sonst niemand! Und hier erfahren sie: Vielen anderen geht es auch so.

FGT: Nehmen Sie dabei die Familie, die Freunde mit ins Boot?

Arndt: Thematisch ja, aber personell nicht. Ich empowere die Frauen, dies selbst zu tun. Das ist ohnehin meine Prämisse: Ich begleite euch nur solange, wie es eben nötig ist. Schafft die Schritte alleine! Ich gebe meinen Coachees viele Hausaufgaben mit, in denen es auch um die Kommunikation mit dem Partner geht oder um die Abgrenzung gegenüber den Kindern. Wir sind thematisch nah am Umfeld, aber ich biete keine Paar- oder Familienberatung an. Das ist meist auch gar nicht notwendig – die Paare beziehungsweise die Familien machen sich oftmals gemeinsam auf den Weg.

FGT: Gibt es so etwas wie einen 10-Punkte-Plan für Hochsensible?

Arndt: Ich finde es schwierig, es so zu formulieren, da die Herausforderungen sehr individuell sind. Es gibt Frauen, die gestresst sind, wenn der Nachbar die Treppe rauf- und runterläuft. Sie kommen nicht zur Ruhe, weil sie permanent die Schritte hören und nicht mehr einschlafen können. Andere Frauen haben einen Schwelbrand gerochen, noch bevor sie das Haus betreten haben, oder einen Wasserschaden im Mauerwerk, wo ein Rohrbruch vorprogrammiert war. Daher kann ich nicht jeder Frau sagen: Achte darauf, dass du dich olfaktorisch nicht überforderst, wenn es sie gar nicht betrifft. Was ich immer empfehlen kann: Schaue auf dich, gönne dir Pausen und verbringe sie gut. Wenn das Bauchgefühl dir sagt: Ich schaffe das nicht mehr, dann tu es nicht; meist ist die die Grenze schon vorher spürbar. Um es auf eine Formel zu bringen: Lebe intuitiver!

FGT: Die Abgrenzung mit dem eigenen Stopp-Schild führt doch sicher nicht selten zu weiteren Konflikten, oder? Wie stärken Sie Ihre Coachees dahingehend?

Arndt: Ja, das ist nicht selten. Ich bin ausgebildete Mediatorin und habe viele Jahre als Mediatorin gearbeitet und kenne Streit- und Konfliktpotenziale sehr gut. Aus dieser Erfahrung weiß ich, dass die Frauen sich oft auf einen Konsens eingelassen haben, der nicht selten – auch hinsichtlich der eigenen Rolle - schwierig war und ist. In den Coachings höre ich sehr schnell heraus, wo mögliche Konfliktpotenziale entstehen könnten. Dann stärke ich die Frauen dahingehend und bereite sie durch Übungen auf anstehende Gespräche vor. Wir können uns nicht vorstellen, wie oft es uns schwerfällt, nein zu sagen. Aber genau das können wir im Mikrokosmos der eigenen Familie gut trainieren. Kleinste Verhaltensänderungen im privaten Alltag lassen sich ganz oft auf andere Situationen, zum Beispiel im Job, übertragen.

FGT: Ich stelle mir gerade vor, dass hochsensible Menschen die vielen Eindrücke aufnehmen wie bei einem Schwamm. Wie können sie das Angesammelte wieder loswerden?

Arndt: Genauso ist es. Ich benutze dafür tatsächlich selbst gerne das Bild eines Schwamms. Wenn er vollgesogen ist, er schon sehr schwer ist und das Wasser herausläuft, dann ist es bereits zu viel gewesen. An diesem Punkt braucht es Strategien, die ganz individuell sind. Das kann beispielsweise Atemarbeit, Yoga oder Boxen sein, für andere können dies Schreiben, Waldspaziergänge oder Zeit mit Tieren sein. Tiere senken automatisch den Blutdruck und den Stresshormonpegel durch das ausgeschüttete Oxytocin. Für die eigene Strategie können sich Hochsensible gut einen Plan machen, so eine Art „Das-tut-mir-gut-Liste“ – diese sollte eigentlich jeder Mensch haben. Ich habe meine persönliche Liste im Kopf, aber das erfordert etwas Training. Man sagt, es dauert gut und gerne 66 Tage, um eine neue Routine zu etablieren. Ins Tun zu kommen, ist ganz wichtig!

FGT: Wir sind ganz gespannt auf Ihren Programmpunkt am 19.07. und freuen uns, dass Sie dabei sind. Danke für das Gespräch.

Arndt: Sehr gerne – ich freue mich auch. Schön, dass ich dabei sein darf.

 


 

Das Gespräch führte Anja R. Steinhoff, Projektleiterin Frauen.Gesundheitstag.

Programm: Alle Details zum Programm des Frauen.Gesundheitstages am 19.07.23 von 09:30 - 17:00 Uhr finden Sie hier.

Foto: Anja R. Steinhoff